Anlässlich der Ausstellung: The Voids that Images Leave Behind: Martin Bilinovac, Ekaterina Shapiro-Obermair
6. Oktober 2020 - 30. Oktober 2020 Märzgalerie Linz

Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Die alte Kröte.

Kobayashi Issa

Die Tatsache, dass Martin Bilinovac und Ekaterina Shapiro-Obermair als möglichen Titel für ihre gemeinsame Ausstellung in der MAERZ Galerie zunächst ein Haiku von Issa in Erwägung zogen, öffnet eine spannende Perspektive auf die gezeigten Arbeiten. Die Kennzeichen eines Haiku sind größtmögliche Konkretheit und ein unmittelbarer Bezug zur Gegenwart. Zugleich aber zeichnet sich das Haiku dadurch aus, dass es sich dabei um eine unabgeschlossene, offene Textform handelt, die sich erst im Erleben der Leser*innen und auf jeweils eigene Art und Weise vervollständigt. Das Haiku basiert damit wesentlich auf einem Moment der Abstraktion: Etwas in aller Intensität in einem konkreten Hier und Jetzt Erlebtes wird in ein abstraktes Bild übertragen, das in einem anderen konkreten Hier und Jetzt – im Kontext der Rezeption – wiederum intensive Erfahrungen auslösen kann.

Was die Arbeiten von Martin Bilinovac und Ekaterina Shapiro-Obermair verbindet ist, dass sie sich beide mit Prozessen der Abstraktion beschäftigen, sich zugleich aber beide auch sehr stark am Konkreten orientieren, an alltäglichen Situationen und historischen Zusammenhängen, am Ausgangsmaterial einer realen physischen Welt, in die sie gestaltend eingreifen. So beschäftigen sich auch beide mit der Frage, was Bilder sind und was Bilder können. Wie der Ausstellungstitel verrät, bringen sie das Medium des Bildes mit einer Art Leerstelle oder Lücke in Verbindung, die sich erst nachträglich zu erkennen gibt und die herkömmliche lineare Ordnung von Zeit und Kausalität damit auf den Kopf stellt. Wo man vielleicht erwarten würde, dass das Betrachten eines Kunstwerks ein Mehr an Fülle mit sich bringt, verhält es sich gerade umgekehrt: Wo Bilder ihre Wirkmacht entfalten, stehen am Ende mehr Fragen als Antworten, mehr Unwägbarkeiten als Gewissheiten und Sicherheiten im Raum.

Die Arbeiten in dieser Ausstellung eröffnen einen Möglichkeitsraum und treten in einen Dialog ein, dessen Spannung und Intensität vor allem darin liegt, dass beide Künstler*innen mit Medien arbeiten, mit denen sie sich gewissermaßen zwischen den Dimensionen bewegen. So geht Shapiro-Obermair oft vom zweidimensionalen Medium der Zeichnung aus, um ihre raumgreifenden Arbeiten zu entwickeln, während Bilinovac bei räumlichen Situationen und Inszenierungen ansetzt, die er mit seinen Fotografien in zweidimensionale Bilder überträgt.

Shapiro-Obermairs skulpturale Arbeiten stehen mit ihren zeichnerischen Grundstrukturen buchstäblich wie Kipp-Bilder zwischen Malerei und Skulptur im Raum. Denn die streng komponierten dreidimensionalen Objekte, auf denen sich die Zeichnung als Relief abhebt, sind auch malerisch bearbeitet und weisen auch jenseits pointierter Farbtupfer deutliche Spuren von der spontanen Geste des Bemalens auf. Die intuitiv gesetzten Pinselstriche, hier ein ausfransender, grelloranger Rahmen, dort ein paar dezentere Fahrer oder ein melierter Hintergrund, erzeugen im Zusammenspiel mit der strengen Formensprache der Zeichnungen eine Spannung, die den offenen Charakter der Arbeiten unterstreicht.

Bilinovac hingegen betreibt das Spiel mit den Dimensionen eher in der umgekehrten Richtung. Er beginnt seinen Arbeitsprozess oft damit, dass er real vorgefundene Situationen manipuliert und inszeniert, um sie erst in einem zweiten Schritt ins zweidimensionale Medium der Fotografie zu übertragen. Dabei sind seine Manipulationen manchmal so subtil, dass sie unter der Wahrnehmungsschwelle liegen und bei den Betrachter*innen eine leise Irritation auslösen, eine Art Ahnung eben, die nicht so recht eingeordnet werden kann. Wie im Fall der Gießkannen, die in Reih und Glied vor weißem Hintergrund hängen, als wären sie im White Cube eines Museums installiert – hinter denen in Wirklichkeit aber der Wiener Zentralfriedhof liegt, auf dem sie für wildes Wachsen, Treiben und Blühen sorgen, während die weiße Leinwand der Situation wie eine metaphorische Bildebene zwischen Betrachter*innen und Wirklichkeit eingepflanzt ist.

Das in dieser Ausstellung augenfälligste Scharnier zwischen den Arbeiten von Bilinovac und Shapiro-Obermair sind die vielen gekippten und gelehnten Objekte, die vielen Fenster und Türen, die als Figuren des Übergangs eben nicht nur im Raum stehen, sondern auch unterschiedliche Räume und Dimensionen miteinander verbinden – wie das »offene Fenster«, mit dem der Kunst- und Architekturtheoretiker Leon Battista Alberti 1435 eine bis heute vielzitierte Metapher für das Medium des Bildes prägte. Mit dem Unterschied nur, dass die Kipp-Bilder in dieser Ausstellung keine objektive Wirklichkeit und nichts Absolutes zum Inhalt haben, ja vielmehr Wirklichkeiten des Konstruiert- und Involviert-Seins in den Blick rücken.
Sarah Kolb