Wie Kunst wirkt
E-Mail-Dialog zwischen Künstler Martin Bilinovac und Philosoph Robert Pfaller
Anlässlich der Ausstellung "Incentive" in der Akademie Graz 2019

Quelle Lichtungen Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik 159/40. Jg./2019
S.97 - 101

MB

Volker Schlöndorff hat in einer Ö1-Sendung gesagt, „dass Offenheit auch Verletzlichkeit bedeutet. Das hat mich an eine ältere Arbeit von mir erinnert, die durch ihre gewisse Färbung einen guten Einstieg in meine künstlerische Arbeit ermöglicht. Âventiure (2011) bedeutet verkürzt übersetzt, sich wissentlich einer Gefahr auszusetzen um ein Abenteuer zu erleben. Diese Arbeit bezieht sich auf eine Erfahrung in meiner Jugend. An der Bar auf ein Bier wartend hat mir jemand mit einer Zigarette zwei kreisrunde Löcher ins Sakko, das ich getragen habe, in den Rücken gebrannt. Als ich es bemerkt habe, konnte ich nicht mehr nachvollziehen, wer der Anwesenden es gewesen war. Dieses Kleidungsstück, das ich mochte, aber nicht mehr tragen konnte, habe ich trotzdem über Jahre behalten. Und nach einem Umzug vor einigen Jahren dachte ich mir, das muss doch für irgendetwas gut gewesen sein, und so ist diese Arbeit entstanden.

Bei unserem letzten Treffen hast Du gesagt, dass Hintergedanken auch in Lösungen eingehen können. Ich habe da in Pascal Merciers Roman Nachtzug nach Lissabon etwas Schönes gefunden, das irgendwie dazu passt:
Von den tausend Erfahrungen, die wir machen, bringen wir höchstens eine zur Sprache, und auch diese bloß zufällig und ohne die Sorgfalt, die sie verdiente. Unter all den stummen Erfahrungen sind diejenigen verborgen, die unserem Leben unbemerkt seine Form und seine Melodie gegeben haben. Wenn wir uns dann als Archäologen der Seele diesen Schätzen zuwenden, entdecken wir, wie verwirrend sie sind. Der Gegenstand der Betrachtung verweigert sich stillzustehen, die Wörter gleiten am Erlebten ab und am Ende stehen lauter Widersprüche auf dem Papier. Lange Zeit habe ich geglaubt, das sei ein Mangel, etwas das es zu überwinden gelte. Heute denke ich, daß es sich anders verhält: dass die Anerkennung der Verwirrungen der Königsweg zum Verständnis dieser Vertrauten und doch rätselhaften Erfahrungen ist. Das klingt sonderbar, ja eigentlich absonderlich. Ich weiß. Aber seit ich die Sache so sehe, habe ich das Gefühl, das erste Mal richtig wach und am Leben zu sein.

RP

In Gesprächen mit Dir ist mir oft vorgekommen, dass Du – sozusagen neben Deiner Arbeit -einen reichen Schatz an philosophischen Hintergedanken hegst. Diese Hintergedanken scheinen mir nicht direkt mit Deinen Arbeiten verbunden zu sein. Weder als bewusste Inhalte, noch als jene bewussten oder vorbewussten Orientierungen und Strategien, die zur Formfindung führen (und schon gar nicht als jene modischen „spontanen Philosophien“ – entsprechend dem Begriff Louis Althussers –, mit denen Kunstschaffende, übrigens ebenso wie auch viele Wissenschaftler, sich selbst oft das Verständnis gerade dessen verstellen, was an ihrer Arbeit das Interessanteste ist). Die beiden erstgenannten Aspekte wären aus Deinen Arbeiten durch sorgfältige Beobachtung und schlaue Deutung herauslesbar. Die Überlegungen, von denen Du mir erzählt hast, führen dagegen, wie mir scheint, weitgehend ein Eigenleben. Sie sind vielleicht die Fortsetzung der Kunst mit anderen Mitteln, auf einem anderen Terrain.
Vielleicht bilden die philosophischen Hintergedanken aber auch so etwas wie eine stille Reserve – etwas, das lange funktionslos zu bleiben scheint und worauf erst nach langer Zeit plötzlich zurückgegriffen werden kann; ähnlich wie Deine zärtlich aufbewahrte, unbrauchbar gewordene Jacke, die dann doch plötzlich brauchbar wurde.
Mir fällt dazu gerade ein, dass ungefähr im Jahr 2000 einer der damals so umtriebigen Universitätsreformer erklärte, die Unis müssten von nun an nur noch nützliches, verwertbares Wissen produzieren und sich darum von so nutzlosen Orchideenfächern wie Orientalistik verabschieden. Dann kam der 11. September, und plötzlich war die Orientalistik alles andere als ein nutzloses Wissensgebiet. Solche „Relikte“, deren Wert sich so schlagartig ändern kann, sind wertvolle Messinstrumente – gleichsam Barometer der Kultur: sie lassen uns erkennen, wie sehr eine kulturelle Gesamtwetterlage sich verändert hat (und wie naiv es ist, zu glauben, sie könnte sich nicht massiv ändern). Es ist ein Abenteuer, eine „Aventiure“, solchen fremdartigen, geheimnisvollen Dingen zu begegnen; und eine Kunst, sie festzuhalten und aufzubewahren – in der Ahnung, dass sie einen Wert bekommen könnten. Man könnte dies auch eine vorwärtsgewandte „Archäologie“ nennen. Während Merciers „Archäologen der Seele“ rückwärts blicken, um das Fremde und Verwirrende dieser Erfahrungsspuren innerhalb einer vertrauten Gegenwart wahrzunehmen, muss jemand wie Du wohl in der Lage sein, das Geeignete, Passende oder Fitte bestimmter, scheinbar nutzloser Dinge zu antizipieren, das sie in einer noch völlig fremd anmutenden Zukunft einmal besitzen könnten.
Übrigens erscheint mir dies auch ein häufig anzutreffendes Merkmal philosophischer Gedanken zu sein: man weiß oft nicht recht – oder nicht gleich –, wofür sie gut sind. Zum Beispiel, wenn Blaise Pascal über seine Wette auf Gott nachdenkt: gehört das jetzt zur Theologie, oder vielmehr zur mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung? Oder wenn Freud erkennt, dass neurotische Zwangshandlungen in vielen Zügen den Ritualen der Religionen ähneln – ist das nun ein Beitrag zur psychoanalytischen Klinik oder vielmehr zu ihrer Kulturtheorie? Geht es hier um Heilung oder aber um ein Verständnis der Entwicklungsdynamik von Religionen? Und wenn Ludwig Wittgenstein, dem Anthropologen Frazer widersprechend, zeigt, dass die sogenannten „Wilden“ keineswegs an die Magie glauben, die sie praktizieren – ist das nun ein Beitrag zur Anthropologie, oder aber zur Philosophie der Sprachspiele? Oder wenn Slavoj Zizek in den Filmen Hitchcocks Schlüssel zum Verständnis der Theorie Jacques Lacans entdeckt – ist das nun Filmtheorie oder aber Philosophie der Psychoanalyse? Viele Gedanken der Philosophen, vielleicht gerade ihre besten, sind in ihrem Wesen solche Hintergedanken. Es mag ihnen, wenigstens auf den ersten Blick, an Anwendbarkeit fehlen. Dafür haben sie fast immer eine erheiternde Wirkung; sie haben Witz. Vielleicht erfüllen sie damit auch die Funktion, dem Denken Beweglichkeit zu verschaffen. Die so gewonnene Beweglichkeit kann dann vielleicht bei ganz anderen Gedanken und bei Aufgaben auf ganz anderen Terrains genutzt werden. Auf diese Weise könnten philosophische Hintergedanken zu Ressourcen künstlerischen oder philosophischen Produzierens werden – auch ohne selbst in die Produkte einzugehen.

MB

Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass Denkflüsse und Eindrücke, persönliche und nicht viermittelbare, keine direkte Verbindung zu einem Kunstwerk haben müssen und trotzdem oder gerade deshalb zu einem späteren Zeitpunkt auf einmal ganz genau wo hinpassen.
Ich habe es auch schon oft erlebt, dass eine Arbeit erst Jahre später für mich wirklich Sinn durch eine neue Arbeit ergeben hat und vermittelbarer geworden ist, wo ich vordergründig gar nicht die Absicht verfolgt habe, diese zu ergänzen.

Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob die nicht vermittelbaren Gedanken doch in einer künstlerischen Arbeit zu etwas gerinnen beziehungsweise in dem Kunstwerk aufgehen können. Und falls nicht, ist es für mich, wie bei der von Dir gestreiften Pascalschen Wette, zumindest ein gutes Argument für den Glauben daran. Oder man beschreibt den Glauben daran mit Sigmund Freuds „ozeanischem Gefühl – Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen“. Das er aber bei sich selbst nicht entdecken konnte.

Dein Eindruck, dass manche Überlegungen, die ich mir mache, wie „die Fortsetzung der Kunst mit andren Mitteln, auf einem anderen Terrain“ ist, gefällt mir sehr gut, weil ein Charakteristikum, nach dem ich für meine Bilder Ausschau halte, gewissermaßen ein blinder, leerer Fleck ist, um den herum alles andere sich bewegt.

Eine Einleitung von Walter Benjamin in die „Aufgaben des Übersetzers“ hat mich darin bestärkt: „Was sagt denn eine Dichtung, ein Kunstwerk? Was teilt es mit? Sehr wenig dem, der sie versteht. Ihr Wesentliches ist nicht Mitteilung, nicht Aussage. Dennoch könnte diejenige Übersetzung, welche vermitteln will, nichts vermitteln als die Mitteilung, also Unwesentliches. Das Wesentliche ist nicht Mitteilung, nicht Aussage, sondern das Unfaßbare, das Geheimnisvolle, das der Übersetzter nur wiedergeben kann, indem er auch dichtet.“

Als Metapher für diese Leerstelle eignen sich für mich immer wieder Motive von Öffnungen – von Durchbrüchen, Türen und Fenstern, von tatsächlichen oder imaginären Spiegelungen, die ich fotografisch Inszeniere und die ich als Paradigma des Bildlichen – als Öffnung in einen vermeintlichen Raum hinter der Bildfläche sehe. Die Dinge stehen einerseits für sich und werden andererseits zu Zeichen, die auf etwas anderes verweisen. Eine Arbeit, die gerade entsteht, zeigt zwei Fenster (Fenster Hof I, II 2019). Mir war es wichtig, dass der Blick ins Innere versperrt ist und der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen wird. Die beiden Fenster schielen durch deren Gegenüberstellung am Blick des Betrachters vorbei. In den Gläsern der Fenster spiegelt sich die raue Hauswand.
Ich baue solche Elemente bewusst in meine Bilder ein, um den Aspekt von „es ist so gewesen“ der Fotografie zu stören und die schnelle routiniert Zuschreibung von Form und Funktionalität, mit einer Diskrepanz in der Wahrnehmung des Betrachters zu verhindern. Um ein kurzes Aussetzen der Kontrolle durch die Konventionen der Zuordnung und ein Nachdenken über die Welt der Dinge bzw. das Vermögen und Unvermögen diese zu erkennen zu ermöglichen.

„das Geeignete, Passende oder Fitte bestimmter Dinge zu antizipieren, das sie in einer noch völlig fremd anmutenden Zukunft einmal besitzen könnten“, wie Du geschrieben hast,
trifft auch gut als Beschreibung auf den Findungsprozess in der Konzeption und Suche nach der Eignung der Motive in meiner Arbeit zu. Ich bin ständig auf der Suche nach einem Impuls von außen, der mich in die Lage versetzt, zwischen der Vorstellung, die ich von einem Bild habe und dem was ich sehe, zu vermitteln.

RP

Wenn ich Dich richtig verstehe, überträgst Du bei dem Fenster-Bild etwas von der Form oder Funktionsweise, nach der Du suchst – der Leerstelle –, auf den Inhalt des Bildes. Das ist, finde ich, ein interessantes Verfahren. Ich erinnere mich an eine Stelle in der „Traumdeutung“, wo Freud überlegt, ob die vermeintlichen Lücken des Traumes, also die Stellen, an denen der Traum (oder die Erinnerung an ihn) scheinbar aussetzt, nicht in Wahrheit durchaus Darstellungen sind – eben Darstellungen von Lücken, meist Leibesöffnungen. Gleichgültig, ob Freud nun mit dieser Deutung recht hat oder nicht, finde ich, dass das ein außerordentlich interessanter Gedanke ist. Er eröffnet eine Denkmöglichkeit über ein darstellerisches Verfahren: „Eine Lücke in meiner Form“ könnte der Traum demnach sagen, „stellt eine Lücke meines Inhalts, also zum Beispiel eine Körperöffnung, dar“. Mit diesem Gedanken kann man, glaube ich, verstehen, was Du machst. Denn bei Deinem Verfahren scheint mir genau das Umgekehrte zu passieren. Du findest und wählst einen Inhalt, zum Beispiel ein Fenster, weil Du willst, dass ein Bild auf der Ebene seiner Form Begehren weckt, indem es um eine Leerstelle kreist.
Wenn man bei einem Bild von Dir ein Fenster sieht, geht es also nicht um das Fenster, sondern darum, wie das Bild funktioniert. In Freuds Traumbeispiel stellt ein Loch in der Darstellung ein Loch im Dargestellten dar. Bei Dir scheint es mir umgekehrt zu sein: ein dargestelltes Fenster stellt sozusagen ein Loch in der Darstellung dar. Man könnte dies, allgemeiner, auch als eine Form von Beweglichkeit zwischen der Subjekt- (Darstellungs-) und Objektebene (Ebene des Dargestellten) bezeichnen. Das machst Du ja, mit anderen Mitteln auch – zum Beispiel dann, wenn man unsicher wird, ob ein feines Gitternetz im Vordergrund nun zum Bildgegenstand gehört oder aber ein Effekt des fotografischen Verfahrens ist. Dadurch wird, wie Du sagst, die „Funktionalität“ des Bildes gestört, und in den Betrachtern eine „Diskrepanz“ erzeugt. Wenn man es darauf anlegt, in seinen Arbeiten etwas „Unübersetzbares“ im Sinn von Benjamin zu erzeugen, ihnen also dieses bezaubernde „gewisse Etwas“, den Charme eines plötzlichen Zweifels, zu verschaffen, dann sind solche – übrigens sehr philosophische – Doppeldeutigkeiten, glaube ich, ein sehr geeignetes Betätigungsfeld für einen philosophisch veranlagten Künstler.

MB

Wenn ich eine Einzellausstellung vorbereite, versuche ich mir mehr als sonst, einen Betrachter und ein Publikum vorzustellen und wie viel es in meiner Arbeit sieht und ob es zu einer Übereinstimmung mit einer spezifischen Bedeutung der Bilder zwischen ihm und mir kommt. Diese Imagination beeinflusst in gewisser Weise auch die Auswahl, die ich treffe, und die Kombinationen, die ich wähle. Als ich bei Friedl Kubelka studiert habe, gab es ein Format der Präsentationen, in dem man seine Arbeiten vorgestellt hat. Anstelle aber dass man zuerst selbst über seine Arbeit und Motive sprach, mussten zuerst alle Anderen was dazu sagen. Am Ende kam man dann selber erst zu Wort. Bei diesem Anlass, merkte ich dann, dass die Wahrnehmung der Anderen meine Eigene veränderte und dass was ich ursprünglich zu sagen vorbereitet hatte, in Bewegung geriet. Manches davon korrelierte mit dem Gesagten, anderes nicht, und manches davon musste ich vor mir selber wieder revidieren. Bei meinem Studium an der Universität für angewandte Kunst als auch an der Bauhausuniversität Weimar und der Kunstakademie Münster, war die Reihenfolge dann wieder so, wie man sie gewohnt ist. Diese kleine Änderung im Ablauf stellte ich mir aber seither immer vor, bevor ich über meine Arbeit spreche und gehe dann beide Möglichkeiten im Kopf durch. Die Vorstellung, die ich mir dann mache, ist natürlich eine Illusorische und eine meiner Arbeit zugeneigte. In Echt hat man so eine Situation nie so unter Kontrolle. Aber wie du schon in „Die Illusionen der anderen“ gesagt hast „gehören diese dem anderen, niemals einem selbst“ Mein Beispiel hat zwar nicht ganz genau mit dem zutun was du gemeint hast, aber ich glaube, dass sich fast jeder Künstler diese Frage nach dem Betrachter stellt.
Daher freue ich mich, wie du die Wirkung des Bildes Bienenfresser auf dich beschrieben hast: „...zum Beispiel dann, wenn man unsicher wird, ob ein feines Gitternetz im Vordergrund nun zum Bildgegenstand gehört oder aber ein Effekt des fotografischen Verfahrens ist.“
Da diese Beobachtung so eine Übereinstimmung der spezifischen Bedeutung für mich ist und sich dieser wichtige Aspekt der Arbeit, alleine durch die Arbeit vermittelt. Und ohne die Zuhilfenahme generischer Bildtyp-Gattung und Ikonografie zustande kommt. Daniela Hammer-Tugendhat hat einmal in einer Vorlesung einer Studentin gegenüber erwidert, dass Kunstwerke nicht sprechen können, sondern man über sie spricht,
als diese gesagt hatte, dass Ihr das Werk, dieses und jenes sagen würde.